Die Friedens- und Freiheitsglocke Dessau ist ein aus 4 Tonnen Waffenstahl gegossenes Mahnmal für die friedliche Revolution 1989 in der DDR (Deutsche Demokratische Republik, 1949-1990).
1250 Sturmgewehre AK-47 Kalaschnikow, 174 leichte Maschinengewehre, 87 Panzerbüchsen und 171 Pistolen von 11 Dessauer Hundertschaften der Kampfgruppen der Arbeiterklasse sind in dieser Glocke eingeschmolzen.
Die Kampfgruppen (auch Betriebskampfgruppen) waren eine paramilitärische Organisation der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands), gebildet von Beschäftigten in Betrieben der DDR. Durch sie sollte die „Herrschaft des Proletariats “ in der DDR auch militärisch durchgesetzt werden.
Die Friedens- und Freiheitsglocke ist seit 2001 ein Treffpunkt für Friedensgebete und andere Aktionen der Dessauer Bürger. Sie läutet zum Tag der Deutschen Einheit, zum 9. November, zu Neujahr, aber auch zu aktuellen Anlässen. Ihr Klang soll Mahnung sein, Frieden und Freiheit als wertvolle, zerbrechliche menschliche Güter zu begreifen, um die sich jederzeit und immer wiederkehrend neu bemüht werden muss.
Diese Friedens- und Freiheitsglocke steht in einer Reihe verschiedenster Friedensglocken der Welt, die Geschichten von Macht, Krieg, Gewalt und Tod, aber auch von Sehnsucht nach Frieden und Freiheit, von Mut zur Gewaltlosigkeit, Versöhnung und Neuanfang erzählen.
Hier informieren wir über die Geschichte dieser Glocke, über die Kampfgruppen der Arbeiterklasse und ermöglichen Partizipation über Spenden zum Erhalt dieses einzigartigen Mahnmals.
Glocke
Inschriften
+ 1990 WURDEN DURCH DEN WILLEN DES VOLKES DIE WAFFEN DER DESSAUER „KAMPFGRUPPEN DER ARBEITERKLASSE“ EINGESCHMOLZEN + 2000 WURDE ICH VON PERNER UND ASUG DARAUS GEGOSSEN
KEINE GEWALT
ICH LÄUTE FÜR FRIEDEN UND FREIHEIT + OHNE FREIHEIT KEIN FRIEDEN + OHNE FRIEDEN KEINE FREIHEIT
Geläut
Glockenmaße
Höhe der Glocke (mit Flansch /Krone) 2.11m
unterer Durchmesser (Schärfendurchmesser) ∅ 2.07m
Glockenstuhl
Säulen: 4 Doppel-T-Träger Höhe 11m
Joch: 1 Doppel-T-Träger Länge 3,30m
Rippenentwurf
Margarete Schilling , Apolda 1990
Gussmodellherstellung
Glockengießerei Rudolf Perner, Passau / Karlsruhe 2000
Die Geschichte der Dessauer Friedens- und Freiheitsglocke
20. Oktober 1989: Nach einem Friedensgebet in der Johanniskirche findet die erste Demonstration der Wendezeit in Dessau statt. (Dessau in der DDR, Deutsche Demokratische Republik 1949-1990) Es nehmen ca. 300 Personen teil.
27. Oktober 1989: Nach dem zweiten Friedensgebet demonstrieren in Dessau ca. 10.000 Menschen.
3. November 1989: Nach dem dritten Friedensgebet sind es ca. 70.000 Menschen, die demonstrieren und sich auf dem Dessauer Rathausplatz versammeln.
3. Dezember 1989: Mitglieder der Initiativgruppe „6. Dezember“ überlegen, wie sie die friedliche Revolution voranbringen können. Die Mauer ist 3 Wochen zuvor gefallen, die Grenze ist seitdem offen. Viele DDR-Bürger waren „im Westen“ (BRD), um sich die 100 DM Begrüßungsgeld abzuholen und Verwandte zu besuchen. Nur im täglichen Leben und in den Betrieben tut sich nichts. Es gibt nach wie vor die Vorherrschaft der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) auf allen Ebenen. Es gibt allgegenwärtig die Staatssicherheit (MfS Ministerium für Staatssicherheit, zugleich Nachrichtendienst und Geheimpolizei der DDR) und es gibt die „Privatarmee” der SED, die paramilitärischen Kampfgruppen der Arbeiterklasse.
Die Initiativgruppe plant eine demokratische Abstimmung unter den ca. 2.100 Beschäftigten der Magnetbandfabrik Dessau (MBF). DIN A0 große Plakate werden am Sonntag Abend zu Hause gemalt und am Montag an den Pforten und den Speisesälen der Magnetbandfabrik angebracht. Für Mittwoch, den 6. Dezember, wird zu einer demokratischen geheimen Belegschaftsabstimmung aufgerufen. Handwerker der MBF bauen Wahlkabinen aus großen aufgesägten Pappfässern und Wahlurnen aus Plexiglas. Eine Wahlordnung wird entworfen. Von der Betriebsleitung wird eine Liste der Mitarbeiter erbeten, damit jeder, der gewählt hat, vermerkt werden kann und über 2.000 Wahlzettel werden mit Genehmigung kopiert.
Wenige Wochen, sogar wenige Tage zuvor wäre man für eine solche Aktion angezeigt und von der Staatssicherheit inhaftiert worden.
6. Dezember 1989:Mehr als ²/3 der Stimmberechtigten der Belegschaft der Magnetbandfabrik nehmen an der demokratischen Abstimmung teil. Mit überwältigender Mehrheit fordern sie die Entfernung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), der Staatssicherheit und der Kampfgruppen aus dem Betrieb. Gleichzeitig fordern sie die Verschrottung aller Waffen der Dessauer Kampfgruppen. Das Ergebnis der Abstimmung wird der Modrow-Regierung (Allparteienregierung der Volkskammer der DDR, 13./18. November 1989 bis zu den freien Volkskammerwahlen am 18. März 1990) in Berlin mitgeteilt. Die Polizei transportiert daraufhin in einer Nacht- und Nebel-Aktion die in der Magnetbandfabrik (MBF) lagernden Waffen von 5 Hundertschaften (!) der Dessauer Kampfgruppen in das Volkspolizeikreisamt Dessau. Insgesamt gab es in Dessau 11 Hundertschaften der Kampfgruppen der Arbeiterklasse, Waffen und Ausrüstung der 6 Anderen lagerten im Volkspolizeikreisamt. Der Chef des Volkspolizeikreisamtes Oberstleutnant der Volkspolizei Raspe hilft, die Waffen sicher einzulagern und einen Abtransport durch die Staatssicherheit zu verhindern.
30. Januar 1990:Die Initiativgruppe „6. Dezember“ bringt das Anliegen der Waffenvernichtung vor den Runden Tisch (Konferenz zur Klärung abweichender Interessen oder zur Bewältigung von Krisen) der Stadt Dessau. Die Mitglieder des Runden Tisches beschließen einstimmig die Vernichtung der Waffen.
31. Januar 1990: Nach zähen Verhandlungen mit Vertretern der Modrow-Regierung werden die Waffen der 11 Dessauer Hundertschaften der Kampfgruppen der Arbeiterklasse in einer Dessauer NVA-Kaserne durch Überrollen mit einem Panzer unbrauchbar gemacht.
Diese Aktion sollte eine Initialzündung für die gesamte DDR sein, es gab schließlich Bewaffnung für 210.000 Kämpfer in den Kampfgruppen. Leider blieb sie einmalig.
Februar/März 1990: In vielen Stunden Freizeitarbeit zerlegen die Mitglieder der Initiativgruppe „6. Dezember“, Mitarbeiter der Magnetbandfabrik und mithelfende Dessauer den Waffenschrott in seine Bestandteile Stahl, Holz, Plaste, Leder, Gurte, um Probleme beim Einschmelzen zu vermeiden.
15. März 1990: Der Waffenschrott wird bei ASUG (Gießereibetrieb) in Dessau eingeschmolzen. Es entsteht ein Metallklotz von mehr als 4 Tonnen, der nach einer Irrfahrt zum Stahlwerk Brandenburg (Havel) von Mitgliedern der Initiativgruppe „6. Dezember“ zurückgeholt und auf dem Hof der katholischen Propstei St. Peter und Paul in der Zerbster Straße 48 gelagert wird.
April 1990: Erster Kontakt zur Familie Schilling in Apolda, den bekanntesten Glockengießern Mitteldeutschlands. Margarete Schilling entwirft die Form für eine 4 Tonnen schwere Stahlglocke.
5. Juli 1990: Die Initiativgruppe „6. Dezember“ übergibt gemeinsam mit dem Chef des Volkspolizeikreisamtes Dessau, Oberstleutnant der Volkspolizei Raspe, vernichtete Waffen und Kampfgruppenausrüstung an das Museum für Stadtgeschichte Dessau und das Deutsche Historische Museum in Berlin (West).
Über wichtige caritativ soziale Aufgaben für Osteuropa rückt die Idee der Friedensglocke in den Hintergrund.
31. Januar 1997: Mitglieder der „Initiativgruppe 6. Dezember” gründen das „kuratorium friedensglocke dessau e.V.“, das zum Gedenken an die friedliche 89er Revolution eine Friedensglocke aus dem Waffenschrott für die Stadt Dessau gießen will. Das kuratorium friedensglocke sammelt Spenden zur Finanzierung des Vorhabens. Die Glocke soll, wie die vernichteten Waffen, 4 Tonnen schwer werden. Sie wird etwa 2 Meter hoch sein und einen Durchmesser von 2,10 Metern haben. Sie soll nach dem Willen der Dessauer Stadträte auf dem Marktplatz installiert werden und zu besonderen Anlässen läuten.
31. Januar 2000: Die Glockengießerei Rudolf Perner, Passau/Karlsruhe – erhält vom kuratorium friedensglocke dessau e.V. den Auftrag zur Herstellung der Friedensglocke. Sie fertigen die Gussform für die Glocke. Die Dessauer Spedition Lehmann transportiert die Formen kostenlos von Karlsruhe nach Dessau.
21. Juni 2000: Der Stadtrat beschließt, dass die Stadt Dessau die Planung, Finanzierung und Realisierung des Glockenstuhles ausführt.
29. September 2000: Der Waffenschrottklotz wird bei ASUG (Gießereibetrieb) in Dessau geschmolzen und in die Glockenform gegossen.
Die Gießerei hatte noch nie zuvor eine Glocke gegossen. Für die Mitarbeiter der ASUG und den Glockengießer Rudolf Perner ist es eine große Freude und Erleichterung, dass die Glocke im ersten Anlauf gelungen ist.
Kunstschmiedemeister G. Frank Schönemann korrigiert kleine Gussfehler und verschönert die Inschrift.
Die Firma BKS-Börner gibt der Glocke ihren wetterfesten Mantel (Korrosionsschutz).
1. Oktober 2001: Die Dessauer Friedensglocke wird auf dem Markt provisorisch aufgestellt.
3. Oktober 2001: 11. Jahrestag der Deutschen Einheit, 12 Uhr. Viele Menschen versammeln sich zum ersten ökumenischen Friedensgebet an der Friedensglocke.
9. November 2002: Die Dessauer Friedensglocke wird von Kirchenpräsident Helge Klassohn und Propst Dr. Gerhard Nachtwei an ihrem jetzigen Standort eingeweiht.
Seitdem ist sie Versammlungsort für ökumenische Friedensgebete und die verschiedensten Anliegen der Menschen. Sie läutet zum Tag der Deutschen Einheit, zum 9. November, zu Neujahr und auch zu aktuellen Anlässen.
3. Oktober 2010: Am 20. Jahrestag der Deutschen Einheit erhält der Platz, auf dem die Friedensglocke steht, den Namen „Platz der Deutschen Einheit“.
C. Heitmann: Schützen und Helfen? Luftschutz und Zivilverteidigung in der DDR 1955 bis 1989/90
Volker Koop: Armee oder Freizeitclub? Die Kampfgruppen der Arbeiterklasse in der DDR
Torsten Diedrich, Hans Ehlert, Rüdiger Wenzke: Im Dienste der Partei: Handbuch der bewaffneten Organe der DDR
Gilbert Jacoby: 1989/90: Die „Friedliche Revolution“ in der DDR
Walter Süß: Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern
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